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Lenos Verlag
Nicolas Bouvier
Fundstücke eines Bilderjägers
Aus dem Fransischen
von Hilde und Rolf Fieguth
Titel der französischen Originalausgabe:
Histoires d’une image
Copyright © 2001 by Editions Zoé, Carouge
»Die Eule und der Wal«, »Zum Lachen und zum Sterben«
und »Schlaf, du grosser Weltberater« aus:
Le hibou et la baleine
Copyright © 2003 by Editions Zoé, Carouge
Erste Auflage 2017
Copyright © der deutschen Übersetzung
2017 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Neeser & Müller, Basel, unter Verwendung von
Bildern aus dem Fonds Nicolas Bouvier, Bibliothèque de Genève,
Département des manuscrits et des archives privées
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 477 2
Die Übersetzerin, der Übersetzer und der Verlag danken der Schwei-
zer Kulturstiftung Pro Helvetia für die Unterstützung.
Inhalt
Vorwort von Marlyse Pietri 7
Von Sack und Säcken 11
Ein Schild. Hommage an Charles-Albert Cingria 19
Der Mond und andere Monde 25
So haben sie uns gesehen 31
Der Blumenplanet 37
Eselshaut 43
Crocodiles Blues 47
Krakra 51
Politisch unkorrekt 57
Sintflut 63
Gespenster und andere üble Gesellen 67
Gesegnet sei das Auge 73
Eine Symbolfigur 77
Der pädagogische Virus 83
Das Schweigen der Gebirgspässe 89
Der Bibliothekar 95
Psalm des Ikonographen 99
Händespiel 103
Elefantengedächtnis 107
Alexanders Schatten 113
Sirenen 117
Hommage an Kurosawa 123
Der Bischof, der aus der Kälte kam 127
Solche und andere Besen 131
Tötet sie alle vor Weihnachten 135
Die Eule und der Wal 139
Zum Lachen und zum Sterben 145
Schlaf, du grosser Weltberater 149
Anmerkungen 155
Bibliographie 157
Textnachweis 159
Bildlegenden und Quellen 163
Bildnachweis 168
7
Vorwort
Schon als Kind war Nicolas Bouvier fasziniert von
Bildern. Denen in den Geschichten von Babar; den
Sammelbildern, die er in die Nestlé-Alben klebte; den
Landkarten. Von diesen Erinnerungen erzählte er in
jedem Interview.
Später regte sein Freund, der Maler Thierry Ver-
net, seinen Sinn für visuelle Beobachtung stark an. Im
Oktober 1954 schreibt ihm dieser aus dem Zug nach
Delhi: »Ich habe gestern vor der Abfahrt das Red Fort
besichtigt, war verdrossen von all dem Müll auf dem
Weg dorthin, zu nak, um es schätzen zu können. Aber
es gibt in dem kleinen Museum im Garten amüsante
Miniaturen. Sehr Münchhausen.« Er fährt fort: »Schau
Dir in Delhi genau die Schnauzen der Eichhörnchen
auf den Strassenbäumen an. Ich weiss, dass sie Dir ge-
fallen werden.« Die beiden Freunde dachten sich Die
Erfahrung der Welt gemeinsam aus, darum achtete Ni-
colas Bouvier bei allen Ausgaben dieses berühmten
Buches darauf, dass Vernets Zeichnungen genauso be-
rücksichtigt wurden wie sein Text.
Auf der letzten Etappe seiner grossen Reise, in Ja-
pan, wird Nicolas Bouvier zum Fotografen. Von nun
an verdient er seinen Lebensunterhalt lieber mit dem
Bild als mit dem Text. Dieser Beruf wird das Vorspiel
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zu einem zweiten, dem des Bilderjägers, des Ikono-
graphen, den er jahrzehntelang ausüben wird; in der
Schweiz zieht er von einem Regionalmuseum zum
nächsten, er geht in die Bibliotheken, zuerst in die Pa-
riser Nationalbibliothek und die des Britischen Muse-
ums, dann überall auf seinen Reisen. Ganz besonders
interessiert ihn dabei die Volkskunst. Nach und nach
bringt er eine grosse Sammlung von volkskundlichen
Klischees zusammen, aus denen 1991 sein Werk Volks-
kunst hervorgeht.
Sein Beruf als Ikonograph, »fast genauso verbrei-
tet wie der des Rattenfängers«, dieser Beruf, »der dich
ergreift«, wie er auch sagte, führte Bouvier von 1992
bis 1997 zur Zusammenarbeit mit Le Temps stratégique,
einem in Genf vierteljährlich erscheinenden Hoch-
glanzmagazin. Er übernahm die ikonographische Ge-
staltung der Zeitschrift sowie die Rubrik »L’Image«;
hier stellte er jeweils eine Illustration aus seinem riesi-
gen ikonographischen Archiv vor und machte sie zum
Thema einer Geschichte. Diese Texte sind hier vereint,
in ihnen erzählt Nicolas Bouvier Geschichten, die un-
seren Kinderbüchern ähneln, die bezaubern, belehren,
den Blick schärfen und im Gedächtnis bleiben.
Marlyse Pietri
11
Von Sack und Säcken
Auf der Steigung von Epalinges stand er am Strassen-
rand, ein Typ wie aus einem Comic, und zeigte mit dem
Daumen ohne grosse Hoffnung Richtung Bern. Das
war in den Siebzigern, einer ziemlich bewegten und
glücklichen Epoche meines Lebens, als ich die kleinen
Regionalmuseen der Schweiz (es gibt Hunderte von ih-
nen) abklapperte, die jenseits der Saane oder hinter Si-
ders Heimatmuseen heissen. An diesem Tag fiel kalter,
dünner Regen. Ich war nach langem Briefwechsel
auf dem Weg zum Schlossmuseum Burgdorf, wo ich
die Stempel auf Kornsäcken (17./18. Jahrhundert) foto-
grafieren wollte; es untersteht der Burgergemeinde, und
nur der Lehrer besitzt den Schlüssel. Diese Sackstempel
weisen oftmals viele merkwürdig rosenkreuzerische
und freimaurerische Einflüsse auf, sie interessierten
mich wegen ihrer grafischen Schönheit, aber auch weil
sie ein Hinweis auf erstaunlichen bäuerlichen Wohl-
stand waren, wie man ihn in manchen privilegierten
Gegenden der Schweiz findet, dort, wo die Dächer der
Bauernhöfe so gross sind wie Minigolfplätze, wo die
Fenster welch Luxus bleigefasste Butzenscheiben
haben; Jeremias Gotthelf konnte darüber schreiben
(ich zitiere aus dem Gedächtnis): »So manch ein polni-
scher Junker würde wohl gern sein Gut mitsamt den
12
stinkenden Wassergräben gegen einen solchen reichen
Bauernhof eintauschen, dessen Fenster im Abendlicht
funkeln.« Ich hatte hundert Kilo Filmmaterial im
Kofferraum und auf der ckbank. Der Beifahrersitz,
auf dem schon unzählige Anhalter gesessen hatten,
war noch leer.
Der, den ich an jenem Morgen auf der Steigung
von Epalinges aus den Augenwinkeln gesehen hatte,
konnte einem durchaus Bedenken einflössen. Cowboy-
stiefel, abgewetzte Jeans, handbreiter Nietenrtel, an
dem ein finnisches puukko hing, dies Messer mit schwe-
rer, scharfer Klinge, das einem den Daumen abschnei-
det, ehe man »papsagen kann. Zwei symmetrische
Schmisse liefen quer über seine Wangen, kurze rote
Haare kräuselten sich wie auf der Stirn eines Stiers.
Der pralle, gutverschnürte, glänzende Ledersack zu
seinen Füssen verlieh dieser bedrohlichen Banditen-
gestalt einen Anflug von unerwartetem Schick; ohne
anzuhalten, fuhr ich vorbei.
Dreissig Meter weiter der Regen prasselte auf
die Windschutzscheibe schämte ich mich, ich fuhr
zurück und nahm ihn an Bord. Wortlos setzte er sich
und nahm seinen Rucksack zwischen die Beine. So-
fort breitete sich im Wagen kräftiger Stallgeruch aus,
der angenehme, gesunde, unverkennbare Geruch ei-
nes sauberen Stalls. Verstohlen betrachtete ich mei-
nen Passagier. Er war frisch rasiert, die Fingernägel
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sauber, die Narben sahen eher wie rituelle Ritzungen
aus, nicht wie Wunden von einer üblen Messersteche-
rei. Die nassen Jeans, die diesen starken Geruch nach
Mist ausströmten, waren tadellos sauber. Als er sah,
dass ich ihn genug taxiert hatte, sagte er mit leichtem
Lächeln: »Das ist meine Hirtenhose. Auch wenn ich
sie in der Maschine wasche, geht der Geruch nicht
mehr weg.«
Nach einigen Minuten lligen beiderseitigen
Schweigens, Zeichen von Respekt, erzählen Anhalter
gern von sich, denn sie wissen, dass sie einen nie wie-
dersehen werden. Als es bei Moudon (es war noch die
alte Strasse) den Berg hinunterging, erfuhr ich, dass
seine Mutter aus der Provence war und sein Vater aus
dem Volk der Fulbe, er hatte sich als Bäcker in Mar-
seille niedergelassen. Die Geschäfte gingen gut. Acht
Monate im Jahr arbeitete er bei seinem Vater; wenn
ihm dann vom Buttermilchgeruch der Brioches und
Croissants übel wurde, machte er sich mit seinen Er-
sparnissen auf und davon, streifte durch Europa und
nahm sich dabei viel Zeit für Begegnungen, Zufälle
und für so manches Abweichen vom direkten Weg.
Im Jahr zuvor war er auf dem Weg nach Skandina-
vien rein zufällig mitten in die Solothurner Fasnacht
geraten. Die Nacht brach an, und in dem allgemei-
nen Tumult zog ihn die gastliche und mysteriöse At-
mosphäre dieser Gestalten im weissen Büssergewand
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in ihren Bann. Auf allen Plätzen wurde getanzt, aber
eine Maske war unerlässlich (aus Pappmaché, mit ei-
nem Gummiband befestigt, für ein paar Rappen).
Unmöglich, sein Glück mit unbedecktem Gesicht zu
versuchen. Eine Weile tanzte er in der Nacht mit ei-
ner Kunststudentin aus Bern, die dann zu ihm sagte:
»Du gehst mit mir bis zu meiner Tür; wir nehmen
unsere Masken ab, und wenn wir uns nicht gefallen,
verschwindest du ohne Widerrede.« Er war geblieben.
Am nächsten Morgen, als er noch völlig schlaftrunken
war, hatte sie bereits in einer Landwirtschaftszeitung,
ähnlich dem Sillon romand, einen Platz für ihn als
Kuhhirt auf einer Alp oben im Berner Jura gefunden.
Mit seinem bäuerlichen Chef hatte er sich genauso gut
verstanden wie mit seiner Berner Studentin und war
in diesem Jahr wieder angestellt worden. Schliesslich
waren ja die Fulbe ebenfalls chter gewesen! Er be-
fand sich also auf dem Weg zu seiner Herde, natür-
lich mit dem Umweg über Bern, um seine Freundin
und kulturelle Mentorin wiederzusehen, die von ihm
verlangte, mit ihr die erste grosse Klee-Ausstellung zu
besuchen (Kunsthalle, 1975).
Als wir Murten hinter uns gelassen hatten, war es
an ihm, Fragen zu stellen. Was hatte ich denn an ei-
nem Regentag so weit weg mit all dem Material vor?
Filmaufnahmen in einem Privatmuseum, das eifer-
chtig über seine Vorrechte und wunderbaren Samm-
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lungen wachte, dem Schlossmuseum Burgdorf. Er
hatte viel Zeit und bot mir an, mich zu begleiten und
mir zur Hand zu gehen, was ich gern angenommen
hätte. Aber für meine Gastgeber auf Schloss Burgdorf
fiel bereits der Besuch eines Genfer Fotografen in den
Bereich Ethnographie. Wenn ich mich noch dazu mit
einem solch exotischen Assistenten vorstellen würde,
käme ich niemals über die Schwelle. Da hätte ich mir
gleich einen Knochen durch die Nase stecken können.
Ich wäre wohl sehr argwöhnisch empfangen worden.
Schonend erklärte ich es ihm, was aber überflüssig
war: Auch er war in der Weltgeschichte herumgekom-
men und feinsinnig genug, die Situation einzuschät-
zen, ohne übelzunehmen. Dagegen beharrte er darauf,
mich zum Essen nach Bern einzuladen. Aber ich hatte
keine Zeit, wegen des Regens war ich schon spät dran.
Ich sagte ihm, dass auf alle Fälle er mein Gast gewesen
wäre, wenn ich Zeit gehabt hätte.
»Ich habe fünftausend Schweizer Franken in meinem
Rucksack, und es hätte mir wirklich Freude gemacht.«
»Dann lassen Sie ihn keine Minute aus den Augen,
vor allem in reichen Ländern wird gestohlen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen um mich«, sagte
er beim Abschied, »ich habe es gelernt, vorsichtig zu
sein. Ich steige nicht in jedes Auto.«
Dieses Kompliment brachte mich etwas in Ver-
legenheit, aber es kann vorkommen, dass uns eine

Nicolas Bouvier
Fundstücke eines Bilderjägers

Aus dem Französischen von Hilde und Rolf Fieguth


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-477-2
Seiten 169
Erschienen 29. März 2017
€ 22.00 / Fr. 29.00

Literarisch-ikonographische Kleinode aus dem Kosmos des berühmten Weltreisenden – erstmals in deutscher Übersetzung.

28 literarisch-ikonographische Kleinode aus dem Kosmos des berühmten Weltreisenden – erstmals in deutscher Übersetzung.

Schon als Kind von Bildern fasziniert, entwickelte Nicolas Bouvier durch seinen Freund, den Maler Thierry Vernet, einen ausgeprägten Sinn für visuelle Beobachtung. In Japan erwachte sein Interesse an der Fotografie – für ihn »eine andere Art des Schreibens« und der Grundstein jener Leidenschaft, die ihn jahrzehntelang fesseln sollte: die eines Bilderjägers, immer auf der Suche, in Museen und Bibliotheken auf all seinen Reisen. Die Volkskunst schlug ihn dabei besonders in ihren Bann. Seine Passion mündete in eine Zusammenarbeit mit dem Genfer Magazin Le Temps stratégique, für das er von 1992 bis 1997 als Ikonograph arbeitete. In der Rubrik »L'Image« stellte er Illustrationen aus seinem riesigen Archiv vor und machte sie zum Thema einer Geschichte. Diese Texte samt den zugehörigen Abbildungen sind hier vereint.

Nicolas Bouvier vermittelt in ihnen auf unterhaltsame Weise kulturhistorisches Wissen, er schärft den Blick der Leserinnen und Leser und verzaubert sie.

Pressestimmen

Eine Fundgrube für alle Fans von Nicolas Bouvier und solche, die es werden wollen.
— Manfred Papst, NZZ am Sonntag
Man möchte gerne begeistert ausrufen: Ein Universalgelehrter des 20. Jahrhunderts!
— Hansruedi Kugler, St. Galler Tagblatt
Eine Weltreise im Kleinen.
— P.S.