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Lenos Verlag
Die ganze Welt, noch immer da
Literarische Streifge durch vierzig Städte
Mit einem Vorwort von Regula Renschler
Copyright © 2010 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 409 3
Die ganze Welt, noch immer da
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Inhalt
Vorwort von Regula Renschler 9
Alexandria Edwar al-Charrat 17
Algier Wassini Laredsch 25
Amman Abdalrachman Munif 31
Bagdad Sinan Antoon 37
Barbarswila Gerold Späth 45
Basel Hilde Ziegler 53
Beirut Machmud Darwisch 57
Berlin Fritz H. Dinkelmann 67
Bern Hans Morgenthaler 73
Bethlehem Dschabra Ibrahim Dschabra 79
Bologna Francesco Guccini 85
Charlottetown Emily Nasrallah 89
Chicago Alaa al-Aswani 95
Florenz Yvette Z’Graggen 101
Gasa Ghassan Kanafani 105
Genf Alice Rivaz 113
Haifa Emil Habibi 119
Istanbul Annemarie Schwarzenbach 125
Jerusalem Sumaya Farhat-Naser 131
Kabul Nicolas Bouvier 137
Kairo Ibrahim Aslan 151
Kairuan Habib Selmi 159
Karbala Alia Mamduch 167
Kirtha Salim Bachi 173
8
Latakija Hanna Mina 177
Lausanne Jacques Mercanton 183
London Tajjib Salich 189
Luzern Guido Bachmann 199
Mailand Walther Kauer 207
Marseille Peter Burri 215
Mombasa May Sheldon 221
Moskau Ella Maillart 227
New York Ulrich Becher 233
Paris Blaise Cendrars 239
Rom Dieter Fringeli 247
Sydney Lina Bögli 253
Tanta Abdalhakim Kassem 261
Tunis Hassan Nasr 269
w Ibrahim al-Koni 275
rich Corina Caduff 281
Die Autorinnen und Autoren 287
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Vorwort
Vierzig Impressionen von Städten aus der ganzen Welt sind
in diesem Buch versammelt. Es ist ein Jubiläumsbuch, da-
mit feiert der Lenos Verlag sein vierzigjähriges Bestehen.
Die Ausschnitte aus Werken von vierzig Lenos-Autorinnen
und -Autoren zeigen, was seit Beginn ein Interesse und ein
Anliegen des Verlags ist: Literatur seinen Leserinnen und
Lesern möglichst vielfältig näherzubringen und mit der
Literatur fremde Laute, betörende Gerüche, unbekannte
Gebräuche anderer Menschen, stille Landschaften und laute
Städte. »Man wird in den Strassen der Stadt vom Eindruck
des Zeitlosen, Ungewissen und Preisgegebenen überfallen
wie von einer Versuchung«, schrieb Annemarie Schwarzen-
bach über Istanbul.
Leben in uralten, in alten und in neuen Städten vermitteln
die vierzig Lenos-Autoren, sie beobachten pralles, ärmliches,
schwieriges, aber auch glückliches Leben, Menschen in ku-
rio sen Umständen an seltsamen Orten. Sie schreiben aus dem
Innern des Mediums, vom eigenen Leben in Städten fast aller
Kontinente, oder sie sind Reisende an fremdem Ort, Wegge-
gangene im Exil, Pendler zwischen den Welten. In manchen
Texten spürt man das Staunen der Autoren, in anderen leiden
sie mit ihren Protagonisten, in wieder anderen lachen sie und
schütteln die Köpfe ob so viel Unverstand und Missgeschick
oder freuen sich, dass Rettung in letzter Minute gelang.
In Alexandria hilft die Frau, die im Dämmerlicht der lee-
ren Bar ganz hinten sitzt, dem ahnungslosen Gast, der auf
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ein Abenteuer mit ihr fiebert, vor drohendem Unheil durch
den Hinterausgang in die Sicherheit der Strasse. In Barbars-
wila wollen ein paar trinkfeste Herren den Damm überque-
ren, um zu Speis und Trank zu gelangen, der Damm »ist
ziemlich Fussgänger-tückisch (), sogar Mord-berüchtigt«,
und wer weiss, was dann geschieht. In Kabul, einer »wun-
derbaren Stadt« – »einziger Vorbehalt: der Geruch von
Hammelfett, der die Stadt ganz durchdringt« frönt eine
lebendige, ulkige, interessante Gesellschaft hier ansässiger
Ausländer dem Klatsch, und manchmal gibt es eine kleine
Krise à la Madame Bovary. In Kairuan sitzen ein paar alte
Männer unter einem Baum und gelüsten nach einer schönen
Witwe, die jetzt einem anderen gert. In Paris wagt sich
der Fremde in eine Buchhandlung, die in der ganzen Welt
berühmt ist, und vor ihm öffnet sich »ein überwältigendes
Universum ohne Orientierungspunkte«, hier fliesst es über
von Büchern, »ein riesiges Durcheinander, ein Kafarnaum,
und überall Staub«. In Marseille, der »Stadt der um Haa-
resbreite verpassten Chanc, feiert ein junges Paar seine
erste Liebe, während im Korridor das Zimmermädchen mit
dem Staubsauger fummelt.
Aus Gasa schreibt einer seinem Freund, wie ihn »alles und
jedes in dieser abgeschnittenen Stadt an verunglückte, grau
in grau gehaltene Gemälde eines kranken Menschen« erin-
nert Gasa, »in sich geschlossen und nach innen gerichtet
wie die Schneckenhäuser, die die Wellen immer an den kleb-
rigen Sandstrand nahe dem Schlachthaus spülten«. In Sydney
freut sich eine mutige Schweizerin vor über hundert Jahren
über eine Stelle als Französischlehrerin und ärgert sich über
den Park, wo jede Bank »von einem verlumpten oder betrun-
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kenen Subjekt, Mann oder Frau, in Besitz genommen« ist; in
Bethlehem verhilft die Grossmutter dem Enkel zu Heft und
Stift, damit er in der Schule schreiben kann, und in Latakija
feiert ein Vater die Geburt des Sohnes mit »Muschabbak,
dem in Öl ausgebackenen, zucker getnkten Spritzgebäck«.
Und welcher Leser, welche Leserin könnte sich den fast
hymnischen Worten entziehen, mit dem der Autor in einem
ganzen Kapitel die Magie der ersten Tasse Kaffee an einem
Morgen in Beirut beschrt: »Denn der Kaffee, die erste
Tasse Kaffee, ist der Spiegel der Hand. Die Hand, die den
Kaffee bereitet, strahlt auch die Seele aus, von der sie ge-
lenkt wird. Kaffee gleich einer öffentlichen Lesung aus dem
aufgeschlagenen Buch der Seele, gleich einem magischen
Schlüssel zu den Geheimnissen des bevorstehenden Tages.«
Die vierzig Texte sind eine Auswahl, sie spiegeln die Ver-
lagsgeschichte wider mit einem Querschnitt durch das lite-
rarische Programm. Der älteste der vierzig Texte stammt aus
dem Jahr 1892, es handelt sich um »Mombasa. Kein Land
der Halbne«. Autorin ist die Amerikanerin May Sheldon,
die als erste Frau der Welt mit einer Karawane eines der un-
ruhigsten Gebiete Ostafrikas bereiste. Über hundert Jahre
später, 2006, erschien ihr Buch auf Deutsch bei Lenos un-
ter dem Titel Bibi Bwana. Weisse Königin des Kilimandscharo.
Ein spannender Bericht voller pzis beobachteter Details
einer mutigen Frau, die, begleitet von Einheimischen, von
Mombasa zum Kili mandscharo marschierte. Zu Fuss. Die
Massai erwiesen der weissen Frau grossen Respekt und ge-
ben ihr den Namen »Bibi Bwana«, was so viel wie »Frau
Anführerin« heisst.
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Mit diesem Querschnitt ist das Verlagsprogramm natür-
lich längst nicht ausgeschöpft, es fehlen die Sachbücher
einige von ihnen sehr erfolgreich , die entscheidend zum
Ansehen des Verlags beigetragen haben und es weiterhin
tun.
Neben Sachbüchern hat sich der Verlag auf arabische Lite-
ratur, Reiseliteratur und Schweizer Autorinnen und Auto-
ren, namentlich auch solche aus der französischsprachigen
Schweiz, spezialisiert, wobei sich die Bereiche überschnei-
den, das zeigt gerade die Auswahl im vorliegenden Jubi-
läumsbuch. Annemarie Schwarzenbachs Romane sind auch
Reisebeschreibungen, Nicolas Bouvier schreibt literarisch,
wenn er seine Erfahrungen mit der Welt in Osteuropa und
Asien in die Maschine tippt.
Die Herausgabe fremdsprachiger Literatur stellt für ei-
nen Verlag immer eine grosse Herausforderung dar: Die Fi-
nanzierung für die oft kostspieligen Übersetzungen muss
sichergestellt, die Stammleserschaft befriedigt und neue
Leserinnen und Leser müssen gewonnen werden. Viele wird
man kaum je erreichen – cher wie die des libyschen Au-
tors Ibrahim al-Koni um nur einen zu nennen fordern
den Lesern Geduld und Hingabe an den Text ab, und das
gilt r viele Lenos-Autoren. Andere wiederum lesen sich
leicht. Auch hier nur ein Name, der für andere steht: Alaa
al-Aswani mit dem Kultbuch Der Jakubijân-Bau.
Die Übersetzungen fremdsprachiger Literatur fordern
auch den Lektoren viel ab, neben Sprachgefühl ein stetes
kreatives Misstrauen gegenüber den Übertragungen von
Ausdrücken, die fremde Sitten und Gebräuche wiedergeben.
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Oft müssen Fussnoten her, um die unbekannte Welt den
Lesern verständlich zu machen. Übersetzer und Lektoren,
Männer und Frauen, verbringen bei manchen Manuskripten
sehr viel Zeit mit Recherchieren, Rückfragen, Umformu-
lierungen. Das kompetente Lektorat trägt zum Renommee
der Lenos-Bücher wesentlich bei.
Wenn sich ein Verlag wie Lenos über Jahre hartnäckig
und kompetent für eine Literatur einsetzt, die nur Minder-
heiten erreichen kann, ist das ein besonderes Verdienst. Und
er ist trotz dieser schwierigen Umstände ein unabhängiger
Verlag geblieben, der Freiheit verpflichtet, wie der bei der
Verlagsgründung 1970 geplante Name andeutete: »Leros«
sollte er heissen, nach der gleichnamigen Insel in der Ägäis,
wohin während der griechischen Militärdiktatur zwischen
1967 und 1974 Oppositionelle verbannt wurden, unter ih-
nen auch Mikis Theodorakis. Ein Druckfehler machte aus
Leros Lenos, der Name hat sich bestens eingebürgert.
Als Herausgeberin, Literatur- und Sachbuchvermittlerin,
Übersetzerin und Aktionärin des Lenos Verlags begleite ich
den Verlag seit über dreissig Jahren. Das mit der Aktio-
närin kam so: Mitte der siebziger Jahre war ich daran, ein
kommentiertes Lesebuch über den Alltag von Kindern und
Jugendlichen in der Dritten Welt, geschrieben von lokalen
Autoren, herauszugeben. Es sollte im Z-Verlag erscheinen.
Dieser war in der Folge von 1968 gegründet worden und
hatte sich der Gesellschaftskritik verschrieben. Lenos und
Z-Verlag planten eine gemeinsame Reihe zu pädagogischen
Fragen unter dem Namen LenoZ, und die Geschichten über
Kinder aus armen Ländern waren das erste Buch der Reihe,
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im Flattersatz gedruckt und broschiert herausgegeben. Das
Buch Wer sagt denn, dass ich weine wurde zu einem Best- und
Longseller des Verlags, die letzte und achte Auflage erschien
1990, insgesamt wurden über 90 000 Exemplare verkauft,
es wurde auch ins Französische übersetzt. Mir wurde damals
ein Teil des Honorars in Aktien ausbezahlt – die ersten Ak-
tien meines Lebens, ich freute mich sehr über die doppelte
Verbundenheit mit Lenos. Der Z-Verlag wurde Anfang der
neunziger Jahre aufgelöst.
Höhepunkte meiner Tätigkeit beim Lenos Verlag wa-
ren die seltsame Geschichte rund um das Buch von Axelle
Kabou, Weder arm noch ohnmächtig, und der Kontakt zu
Sumaya Farhat-Naser. Die Kamerunerin Axelle Kabou
lernte ich 1991 in Dakar kennen, sie hatte eben ein Buch
veröffentlicht, in dem sie die Afrikaner zu mehr Eigenver-
antwortung aufforderte. Im Stil eines französischen Pam-
phlets geschrieben, war es ein Buch, das zum Denken an-
regte. Kabou war die erste bekanntgewordene afrikanische
Stimme, die nicht mehr die ganze Schuld der afrikanischen
Rückständigkeit bei der Sklaverei und dem Kolonialismus
sehen wollte. Entsprechend gross war auch der Widerhall
nach der deutschen Übersetzung, die 1993 bei Lenos er-
schien. Die Nachfrage nach Interviews war riesig, doch die
Autorin verweigerte sich, schlimmer noch, sie tauchte ab.
Geschah dies unter dem Druck von Drohungen? Bis heute
vergeht kein Jahr ohne Anfragen wegen Axelle Kabou, sogar
der deutsche Bundespsident Horst Köhler wollte sie nach
Berlin an sein Afrika-Forum holen, deutsche Botschafter in
Afrika suchten nach ihr, ohne Erfolg, Axelle Kabou bleibt
unauffindbar.
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Von der Palästinenserin Sumaya Farhat-Naser wusste ich
vom Christlichen Friedensdienst cfd in Bern, der die Arbeit
der Friedensaktivistin unterstützte. 1994 erzählte mir die
Freundin Sumaya Farhat-Nasers und Grande Dame des cfd,
Rosmarie Kurz, dass sie die palästinensische Friedensfrau
ermuntert, ja gedrängt habe, ihre Lebensgeschichte auf-
zuschreiben. Sumaya Farhat-Naser, Jahrgang 1948, hatte
mit ihrer Familie den Nahostkonflikt in allen Facetten
erfahren, ihre Biographie würde ein Zeitdokument sein.
Anschliessend sollte es dem Jerusalemsverein im Berliner
Missionswerk, das ihre Arbeit ebenfalls unterstützte, zur
Pu blikation übergeben werden. Es brauchte meinerseits
keine grossen Überredungskünste, die beiden Frauen waren
sofort einverstanden, das Buch Thymian und Steine bei einem
bekannten Verlag, eben Lenos, herauszugeben. Es wurde ein
grosser Erfolg, ein weiterer Bestseller des Verlags, auch dank
der Ausstrahlung Sumaya Farhat-Nasers bei den unzähligen
Lesungen in der Schweiz und in Deutschland.
Als Übersetzerin von Nicolas Bouvier, Salim Bachi,
Yvette Z’Graggen erlebe ich, was jeder Übersetzer und
jede Übersetzerin kennt: das triumphierende Gck, wenn
das Gefühl da ist: so stimmt es!, und die Verzweiflung,
wenn die Übertragung nicht gelingen will. Wenn man sitzt
und brütet, bis tief in die Nacht, wenn einen die Sätze, die
vermaledeiten, verfolgen bis in die Träume, wenn sie sich
im Kopf drehen, wo immer man steht und geht. Und wenn
man dann, ganz allein, seine Versöhnung mit den beiden
Sprachen feiert, wenn die Lösung endlich da ist. Glück und
Verzweiflung wo gibt es eine andere Arbeit, die einem
beides in so reichlichem Mass beschert?
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Städte sind Lebensräume ihrer Bewohner, so erleben wir sie
zunächst im vorliegenden Buch zum vierzigjährigen Beste-
hen des Lenos Verlags. Aber Städte sind viel mehr, aus ihrer
Geschichte heraus entwickeln sie ihr eigenes Wesen, ihren
Charakter und faszinieren uns, ziehen uns an oder stossen
uns ab. Triest, Sansibar, Savannah, Lima, Timbuktu – jeder
hat seine eigene Liste. Städte und ihre Namen regen unsere
Phantasie an, wecken Sehnsüchte nach einem anderen, rei-
cheren, volleren Leben. Ricarda Huch schreibt im Vorwort
zu ihrem Buch Im alten Reich. Lebensbilder deutscher Städte:
»Niemand kann sagen, wieviel von dem Aroma eines Bau-
werks, einer Landschaft, einer Stadt von den grossen oder
merkwürdigen Erinnerungen abhängt, die damit verknüpft
sind. Zuweilen geht von einer alten Mauer ein Hauch aus,
der uns überzeugt, hier müsse Wunderbares sich ereignet
haben, auch wenn wir es nicht wissen; umgekehrt kann un-
ser Wissen Steine formen und melodisch erbeben lassen.«
Dieses Buch von Ricarda Huch erschien 1927, es vermit-
telt das Aroma von Städten, deutschen Städten eben, die
es heute so nicht mehr gibt. Die Literatur ermöglicht das
Unmögliche: eine Teilhabe am Leben in früheren Zeiten,
an anderen Orten, bei fremden Menschen, ermöglicht einen
Blick hinter die Mauern, wo sich hoffentlich, während wir
lesen, in vierzig Städten der ganzen Welt Wunderbares er-
eignen wird.
Regula Renschler
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Alexandria
Edwar al-Charrat. Fish n Chips
Iskandar Awad hatte mir versprochen, mich um halb fünf
Uhr am Nachmittag in Bab Karasta zu treffen. Ich hatte
ihn kennengelernt, als er neben mir herlief und begeistert
»Tod den Engländern!« schrie und »Nieder mit dem Impe-
rialismus!«. Das war bei der grossen Demonstration auf der
Said-Strasse gewesen, auf der ich einen Jungen durch die
Kugeln eines Tommy-Gun hatte sterben sehen. Als er schon
tot war, trugen ihn die Leute auf den Schultern weg.
Iskandar kam zu mir in das kleine Café, wo ich schwer
atmend sass und ein Glas Wasser trank. Er stellte sich
selbst vor und sagte, er sei ein Patriot und liebe Patrioten.
Mir kam er irgendwie bekannt vor, aber ich konnte mich
überhaupt nicht erinnern. Er verfasste in der Sprache des
Volkes einfache revolutionäre Gedichte, die eine Mischung
von Anklängen an die bekannten Dialektdichter Bairam
Tunissi, Hussain Schafik und Abu Buthaina enthielten.
Sie handelten vom Leiden und von der Unbesiegbarkeit der
Ägypter. Er arbeitete bei einem Armenier, der in Kom Na-
dura eine kleine Trockenfleischfabrik besass. Wenn ich ihn
in der finstern Werkstatt aufsuchte, in der eine Maschine
mit einem riesigen, scharfen Rotationsmesser lief, hingen
da, auf der kleinen Erhebung hinter der in den Hügel hin-
eingebauten Werkstatt, runde Stücke von frischem Fleisch
wie Wäsche an der Leine, um in der Luft und in der Sonne
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zu trocknen und zu reifen. Auch bunte Flaggen gab es, und
eine schwarze Kugel war oben auf dem Berg aufgehängt.
Ich diskutierte mit Iskandar immer über die nationale Be-
wegung und die Rolle der Arbeiterklasse, über Wert und
Mehrwert, über die Oktoberrevolution und die ägyptische
Revolution von 1919. Auch über das Verhältnis von Litera-
tur und Revolution. Er war etwa so alt wie ich und behaup-
tete, er habe die Nil-Sekundarschule in Ghait Enab nicht
abschliessen können, weil sein Vater, der dort eine kleine
Fabrik hatte, Bankrott gemacht habe und dann gestorben
sei. Dennoch konnte ich mich überhaupt nicht erinnern.
Ich nahm die Wardjan-Strassenbahn. Der Wagen schau-
kelte ein wenig, als er dahinfuhr. Die Sieben-Nonnen-
Strasse war in der Mittagshitze fast leer. Durch das offene
Fenster der Strassenbahn wehte kühle Seeluft herein. Zwei
Haltestellen nach dem Labban-Polizeiposten stieg ich aus.
Die Strasse war mit buckligen schwarzen Basaltsteinen ge-
pflastert. Rechts und links standen hochwändige Holz- und
Baumwollspeicher, kleine Werkstätten, Lagerhäuser r
Sackleinen und Zwiebeln. Lange Fuhrwerke hielten neben
den fensterlosen Wänden aus rohem, massivem Stein. Der
trockene Geruch von Kohle und Strandgut trieb, getragen
von der feuchten Luft, leicht vom Hafen heran.
In der Kurve einer Seitenstrasse erblickte ich die Bar. Die
Holztafel an der Tür war noch immer englisch beschriftet,
»Fish ’nChips«, lesbar, wenn auch verblichen, unter unru-
higen schwarzen Farbklecksen, die zweifellos von nationa-
listischen Studenten herrührten, nachdem nun die Kriegs-
soldaten abgezogen waren, die dieser Gegend Orgien der
Verzweiflung, Niederlagen und Tod beschert hatten.
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Ich stiess die niedrige Holztür auf, über deren zwei be-
wegliche Flügel hinweg man in die nur matt beleuchtete Bar
sehen konnte. Die Spiegel an der Wand waren mit Reklame
vollgeklebt, beispielsweise mit der Abbildung einer Flasche
Otard-Cognac, die in den Spiegel zu geren schien. Dahin-
ter stand, auf rissigem Schwarz, ein ausgebleichter goldener
Schriftzug. Die Spiegel, die einander gegenüberhingen, war-
fen Bilder von Ouzoflaschen, von Ginaclis-Cognac flaschen
und von White-Horse-Whiskyflaschen hin und her. Die
schwarzen Platten, mit denen der Boden der Bar ausgelegt
war, waren ein wenig verwaschen. Die quadratischen Holz-
tische standen an den Längswänden aufgereiht. Den Tresen,
am Ende der Bar neben der kleinen Hintertür, trennte ein
herablassbares Eisengitter ab.
Iskandar Awad hatte mir versichert, die Polizei nne
wegen einem Treffen in einer kleinen Bar in Bab Karasta
sicher nicht argwöhnisch werden. Er hatte mir versprochen,
er werde einen Vorarbeiter vom Kohlekai, einen hellen und
kultivierten Burschen, mitbringen, denn die Bewegung
müsse auch bei den Dockarbeitern Fuss fassen. Und wenn
ich etwas mitbringen nnte, Erklärungen beispielsweise
oder Zeitschriften oder Bücher, die der neue Kollege le-
sen und darüber den anderen Hafenarbeitern berichten
nnte, wäre das grossartig und würde die Bewegung
weiterbringen. Er drängte mich sehr dazu, dennoch war
ich auf höchste Vorsicht und auf die Regeln der Sicherheit
bedacht. Ich hatte mich mit ihm nur sehr allgemein un-
terhalten und darauf geachtet, ja nicht einen bestimmten
Namen oder bekannten Ort oder irgendeinen Zeitpunkt
r eine Aktion zu nennen. Selbst meinen eigenen Namen
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nannte ich ihm nicht; er kannte mich nur unter meinem
Decknamen.
Als ich die Bar betrat, sah ich ihn ganz hinten im Däm-
merlicht; er hatte eine Frau bei sich.
Sein langes, hageres Gesicht schien im matten Licht des
Nachmittags fast braunglänzend. Die Luft in der leeren Bar
war nach dem Sonnenlicht draussen durch die Fliesen und
den Schatten angenehm kühl.
Iskandar Awad stand auf und begrüsste mich. »Herr In-
genieur Jussuf«, stellte er mich der Frau vor, »von dem ich
dir erzählt habe.« Er machte mit dem Kopf ein Zeichen und
üsterte mir zu: »Sissi, keine Angst, sie ist im Bilde und
steht ganz auf unserer Seite, beim Leben Christi.«
Sitzend reichte sie mir, über den Tisch hinweg und zwi-
schen zwei Stella-Bierflaschen und einigen grossen Bierglä-
sern hindurch, auf denen »Zottos« geschrieben stand, die
Hand. Ich spürte sie, sie war schlaff und kalt und blutleer,
fischgleich, mit langen Fingern, die in tiefrotlackierten Nä-
geln endeten. Sie trug ein dünnes, ärmelloses Kleid mit ei-
ner weiten Öffnung unter dem Arm, die ein Stück Brust
offenbarte. Im schwachen Licht sah ich den sehr weichen,
feinen blonden Flaum auf ihrem ausgestreckten Arm.
»So, das ist also unser Ingenieur Jussuf«, sagte sie unver-
mittelt, unverblümt angreifend im locker-leichten Spiel der
Geschlechter. »Nehmen Sie Platz, mein Lieber.«
Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss und in
meinen Ohren brauste. Doch ich beschloss, diese Art der
Begrüssung nicht als Beleidigung anzusehen, sondern als
Versuch dieser jungen Frau, sich bei mir einzuschmeicheln.
Also murmelte ich ein paar vage Worte, worauf sie in heiter-
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harmloses Lachen ausbrach, aus dem auch nicht der leiseste
Anklang an ihre Tätigkeit herauszuhören war.
Ein winzig kleines Stückchen ihrer Oberlippe stand vor
und warf auf ihre kleinen weissen hne einen Schatten.
Ihre Unterlippe dagegen war voll und hing etwas herab, was
ihrem Gesicht einen deutlich sinnlichen Ausdruck verlieh.
Doch wirkten ihre ungeschminkten Lippen natürlich und
llig unschuldig. Ich roch ihr feines, trockenes Parfum, als
sie mir die Hand entgegenstreckte. Ihr Gesicht sagte mir,
dass sie erst sehr spät aufgestanden war. Ihre Augen wa-
ren ein wenig aufgeschwollen, ein schwerer Blick lag darin,
Hinweis auf eine ausgeprägte Weiblichkeit und eine inten-
sive Zärtlichkeit.
»Was trinkst du, Jussuf?«, fragte Iskandar Awad.
Er klatschte in die Hände, und aus dem mmer des
hinteren Teils der Bar tauchte ein alter griechischer Kellner
auf, der sich elegant und leicht bewegte. Er hatte ein weis-
ses Tuch über der Schulter seiner schwarzen Smokingjacke
liegen. Seine Hose war lang, eng und gestreift, sein Gesicht
von klaren Falten durchzogen, seine Augen lagen tief.
Zu jener Zeit war ich sehr puritanisch. Ich rauchte nicht,
ich trank nur sehr selten, ich hatte keine Frauenbekannt-
schaften. Dennoch bestellte ich, sozusagen zum Trotz, ei-
nen Cognac, und in Sekundenschnelle stellte der griechische
Kellner ein dickes Ballonglas vor mich hin, in dessen unte-
rem Drittel die teure rotgoldene Flüssigkeit schimmerte.
Was passiert sei, fragte ich Iskandar. Warum sein Kol-
lege nicht mitgekommen sei. Er komme ganz sicher gleich,
meinte er und fragte, ob ich die Papiere und die anderen
Sachen dabeihätte. Ich erwiderte nichts.

Diverse
Die ganze Welt, noch immer da

Literarische Streifzüge durch vierzig Städte

Mit einem Vorwort von Regula Renschler


Paperback
ISBN 978-3-85787-409-3
Seiten 313
Erschienen Mai 2010
€ 14.90 / Fr. 24.50

Ausgaben
Paperback (2010)

Vierzig Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern und Kulturen laden den Leser, die Leserin in eine Stadt ein, viele von ihnen in »ihre« Stadt. Die Texte, ansprechend vielfältig in ihrem Tonfall, ihrer Prägnanz, ihrer Ironie, ihrem Charme und von unverwechselbarer Eigenheit, rufen Kindheitserlebnisse aus der Vergessenheit zurück, beschreiben die Suche nach Glück im Unbekannten, die Sehnsucht nach dem, was man Heimat nennt, erzählen von skurrilen Geschehnissen, von Verlust und Hoffnung, von Trauer und Freude. Und sie handeln immer wieder vom Reisen, vom Unterwegssein. Es ist eine Lesereise voller Überraschungen. Vom Buchhändler in Paris ist zu lesen, der seine Bücher so sehr liebt, dass er sie gar nicht verkaufen möchte; vom Studenten in Bagdad, der völlig unerwartet vom Geheimdienst abgeführt wird; vom Kind in Bethlehem, das sich am ersten Schultag unbändig über sein neues Heft und den Bleistift freut; vom alten Mann, der in seiner Jugendzeit als Kaminfegerjunge in Mailand zum Überleben der Familie beitragen musste. Ob Alexandria, Moskau, New York, Waw oder Zürich: die Stadt mit ihren Bewohnerinnen und Bewohnern, ihren Strassen und Plätzen, Häusern und Cafés, Parks und Suks, Flüssen und Seen, Farben und Gerüchen ist Stätte der Erinnerung, Hort der Jugend, Quelle von Lust und Frust, Ort der Sehnsucht – und für den Reisenden eine Etappe oder das ersehnte Ziel.