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Lenos Verlag
Dante Andrea Franzetti
Richtig im Kopf
Kriminalnovelle
Erste Auflage 2014
Copyright © 2014 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich, Dominic Wilhelm
unter Verwendung einer Illustration von Luca Andrea Franzetti
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 451 2
Der Autor
Dante Andrea Franzetti, geboren 1959 in Zürich, ist Autor, Publizist
und Dozent. 1985 wurde er durch den Roman Der Grossvater (Lenos
Pocket 161) bekannt und veröffentlichte danach weitere Romane und Er-
zählbände. Er wurde u.a. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis (1994)
und dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank (2013) ausgezeichnet.
Franzetti war zeitweilig Reporter und Italienkorrespondent verschiede-
ner Zeitungen und lebt heute in Zürich und Rom. Im Lenos Verlag
veröffentlichte er Zurück nach Rom, Roger Rightwing köppelt das feingeistige
Tischgespch und, zusammen mit Pic, Das Bein ohne Mann.
www.interessen.org.
Richtig im Kopf
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I.
Regine Odenaal
In Wirklichkeit ist die Welt geordnet.
Ich weiss, dass vieles dagegen zu sprechen scheint, beson-
ders hier, an diesem Ort im den, an den Mathilda und
ich vor einem Jahr gezogen sind. Wenn ich sie morgens zur
Deutschen Schule in der Via Toledo begleite, die Bagutta
hinunter zur Via Marsala – wir wohnen ja oben am Berg –,
schlagen uns nach wenigen Schritten die feinen schwarzen,
in den grauen Rauch gemischten Russpartikel entgegen,
und weiter unten, gegen die Hafenstrasse hin, sehen wir die
Müllhaufen, in denen es noch flackert und denen dunkle,
ölige Schwaden entsteigen, die, je nach Intensität und Rich-
tung, die Meeresbrise einmal stärker, ein andermal sch-
cher zu uns heraufweht. Mathilda mit ihrem verkümmerten
rechten Bein kann nicht so schnell gehen, abwärts ohnehin
nicht, und so sind wir diesem stinkenden Schwall aus dem
unteren Bezirk immer länger ausgesetzt als alle übrigen
Leute, die vom Berg, eher einem Hügel, den sie nicht um-
sonst Montagnetta nennen, in die Altstadt Richtung Hafen
oder in die Via Toledo müssen, die grosse Hauptstrasse, die
noch vor dem Hafen den anderen gel hinaufführt. Als
Mathilda einmal zu husten begann und ich in ihr Taschen-
tuch blickte, erschrak ich zu Tode: Darin war blutroter
Schleim. Sie aber lachte: Nein, Mama, ich habe zu Hause
noch ein paar Kirschen verdrückt.
Seit einem Jahr also leben wir hier, seit einem Jahr gehen
meine Tochter und ich diesen Weg zur Altstadt hinunter
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und dann die Via Toledo wieder hinauf zum Goethe, wie
sie hier die Deutsche Schule nennen das Goethe –, weil
dort auch jährlich den Fremdsprachigen die Prüfungen für
die verschiedenen Deutschzertifikate abgenommen werden.
Als wir hier ankamen, war Mathilda neun, jetzt ist sie zehn
Jahre alt und besucht die fünfte Klasse der Grundschule.
Von der Montagnetta aus, wo all die kleineren und grös-
seren Einfamilienhäuser und Villen stehen wir wohnen
in einem bescheidenen, zweistöckigen Villino –, sieht die
Altstadt, durch den russigen Nebel betrachtet, wie ein un-
geordneter Haufen Steinkohle aus, aus dem stossweise die
schwarzen Rauchfahnen steigen, die uns auf dem Weg nach
unten im Rachen brennen und vor allem Mathilda, manch-
mal aber auch mich, zu Hustenanfällen reizen. Die Häuser
aus grauem Tuff, aus denen dunkle Fenster blicken, verlie-
ren ihre Konturen, den Verlauf der Strasse erkennt man nur
anhand der helleren Autos im Verkehrsstau, am Abend na-
türlich an den Lichtern, einem schmierigen Gelb, das aus
dem grauen Brei herausleuchtet. Diese Stadt ist ein Sumpf,
sagen die Einheimischen, eine giftige Minestrone, ein stin-
kiges Jaucheloch was also soll hier geordnet sein? Ganz
zu schweigen von all dem übrigen Zeug, das auf den Stras-
sen und in den Innenhöfen herumliegt: vermodernde Kar-
tonschachteln, rostende Fahrradgestelle, verbeulte Kühl-
schränke und andere Haushaltsgeräte, Reifen, Büchsen,
Flaschen, Matratzen – einmal entdeckten Mathilda und ich
auf dem Schulweg an der Ecke Marsala und Toledo sogar
ein ausgebranntes Auto.
Das Mädchen sieht seinem Vater ähnlich: die gleichen kan-
tigen Gesichtszüge; eine lange, gerade Nase; ein voller, breiter
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Mund und dunkelbraune, beinahe schwarze Augen; die schul-
terlangen gelockten Haare haben dieselbe Farbe. Ich weiss
nicht, welchen Anteil an ihrer Sensibilität, ihrer Aufmerk-
samkeit r Details, ihrer Geduld und Beobachtungsgabe,
ihrer Distanz zu den Menschen und Dingen die Missbildung
trägt, mit der sie geboren wurde. Ihr Vater, ein Maler, der uns
natürlich nach einem Jahr verliess, und ich, wir hatten uns auf
die Geburt dieses Kindes gefreut, obwohl wir schon im vier-
ten Monat meiner Schwangerschaft wussten, dass etwas mit
ihrem Bein nicht in Ordnung war. Ja, genau: nicht in Ordnung.
Von der Ecke Bagutta und Marsala in die Toledo einzu-
biegen ist sehr mühsam, vor allem mit einem gehbehinder-
ten Kind. Hier sind die Autos oft in zwei Reihen geparkt,
manche stehen auf dem Gehsteig, und man muss sich hin-
durchschlängeln. Mathildas Bewegungen werden dabei sehr
abrupt, sie fürchtet, sich die Knie an den Stossstangen anzu-
schlagen, sie knickt mit dem schwächeren rechten Bein oft
ein. Mich befällt kein Mitleid, wenn ich sie so sehe bei-
nahe wirkt sie wie eine Spastikerin –, aber eine unbestimmte
Trauer, aus der ich nur einen Gedanken herausschälen kann:
dass Mathilda ein Vater fehlt und, wenn möglich, ein bes-
serer, aufmerksamerer Vater, als es ihr leiblicher war. Nein,
kein Mann r mich, aber ein Vater für dieses Kind, das mir
oft viel zu abgeklärt und viel zu vernünftig und viel zu tap-
fer für seine zehn Jahre erscheint. Ein verspielter, ein wenig
verrückter Vater meinetwegen, aber kein Säufer und Origi-
nal wie der Maler, mit dem ich dieses Kind gezeugt hatte.
Das Goethe ist eine Ganztagsschule, und so haben Mat-
hilda und ich sozusagen denselben Arbeitsweg. Ich über-
gebe sie zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn Esterina Pepe,
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der Frau des Hausmeisters, gehe die Toledo zurück bis zur
Marsala, biege in die Via del Porto ein und habe nur noch
wenige Schritte bis zum Europäischen Institut für Neuro-
pathologie (EINO), in dem ich als ehemals in der Grund-
lagenforschung tätige Biochemikerin und Neurologin den
einmaligen und etwas seltsamen Posten einer Neuroethi-
kerin bekleide. (Wenn es um das Institut geht, drücke ich
mich oft bürokratisch-ironisch aus, aber darüber werde ich
diesem Schriftsteller und Drehbuchautor, der mir heute
Morgen seine Ankunft mitgeteilt hat, de Feo, mit Vorna-
men Mauro, glaube ich, wesentlich mehr mitteilen müs-
sen – vielleicht denke ich deswegen gerade über meinen Ar-
beits- und Schulweg mit Mathilda nach; über die Stadt, die
zum allgemeinen Erstaunen von der Bsseler Kommission
als Sitz für die Forschungsanstalt ausgewählt wurde; und
natürlich über die angebliche Unordnung, das Chaos, die
stinkende Brühe, giftige Minestrone, die diese Stadt sein
soll und als welche sie seit einem Jahr, seit unserer Ankunft
hier, in den internationalen Nachrichtensendungen darge-
stellt wird.) Manchmal bleibt mir noch etwas Zeit für einen
Cappuccino und ein Cornetto in der Bar gegenüber unse-
rem Institut, wenn Mathilda einen guten Anlauf hatte und
zügig vorankam, danach setze ich mich Punkt neun Uhr an
meinen Schreibtisch in der Bibliothek ich habe mir den
Standort ausbedungen und werfe den Computer an, wie
jetzt gerade, am 12. Februar, dem Tag der heiligen Eulalia,
wie ich dem Kalender entnehme, den mir Esterina Pepe zur
letzten Weihnacht geschenkt hat.
Eine Wissenschaftlerin wie ich glaubt natürlich nicht an
die Heiligen, erst recht nicht an Himmel und lle und
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übrigens ebenso wenig daran, dass diese Stadt die lle
sein soll. Ich glaube auch nicht an die Ordnung in der Welt,
weil das keine Glaubensfrage ist. Wenn wir versucht sind,
zu denken, wir seien von Unordnung und Unübersicht-
lichkeit umgeben, dann deshalb, weil unser Gehirn ein so
geordnetes Organ ist, dass es den kleinsten Verstoss gegen
die Ordnung unmittelbar und mit Unbehagen wahrnimmt.
Aber die vielen kleineren und grösseren Verstösse gegen die
Ordnung, die wir idealerweise im Kopf haben, bestätigen
diese ja gerade.
Diesem Doktor de Feo, der einen aufwendigen Do-
kumentarfilm über die, wie er schrieb, »ethischen Impli-
kationen der neueren Hirnforschung« realisieren will, zu
welchem Thema er mich »r die wichtigste europäische In-
stanz« hält, ihm werde ich, wenn er heute um siebzehn Uhr
dreissig bei uns zum Tee erscheint, als Erstes nachdrücklich
sagen müssen: Die Welt ist in Wirklichkeit geordnet.

Dante Andrea Franzetti
Richtig im Kopf

Kriminalnovelle

Softcover
ISBN 978-3-85787-451-2
Seiten 148
Erschienen August 2014
€ 21.00 / Fr. 24.00

Dante Andrea Franzetti erzählt in seiner Kriminalnovelle die berührende Geschichte von einem behinderten Kind, einer alleinerziehenden Mutter und einem zynischen Fernsehmann, der unversehens in die mörderischen Ereignisse stolpert.

Darf man Schwerverbrecher verurteilen? Nein, ist die Hirnforscherin Regine Odenaal überzeugt. Wenn diese Täter töten, werden sie von abnormen Neuronenströmen geleitet, für die sie nichts können. Im Gespräch mit dem Drehbuchautor Mauro de Feo, der sie filmisch porträtieren soll, erläutert sie, warum pädophile Mörder oder notorische Vergewaltiger strafrechtlich nicht belangt werden dürften. Strafe könne es nur für Menschen geben, die eine Wahl hätten, nicht aber für Täter, die von ihrem kranken Gehirn gesteuert würden. Sie seien nicht richtig im Kopf.
Auf die Probe gestellt wird Regine Odenaal, als sie selbst unmittelbar von einem grausamen Mord betroffen ist. De Feo und sie sind mittlerweile ein Paar, doch er muss feststellen, dass er gegen das unaufhaltsame Abdriften seiner Partnerin in Wahnsinn und Rachsucht machtlos ist. Die überlegene Wissenschaftlerin stürzt plötzlich in den bodenlosen Strudel der Realität.

Der Roman ist eine Auseinandersetzung mit den neuesten neurologischen Theorien, die dem Menschen jede Verantwortung für sein Tun absprechen. Das Dasein, die Realität widerlegt aber solche Konstrukte: Ohne Schuld- und Verantwortungsgefühle ist ein menschliches Zusammenleben nicht möglich.

Pressestimmen

Alles ist am richtigen Platz: Spannung, Pathos, die Entwicklung des Plots und die Parabel über die Grenzen der Wissenschaft mit einem wahrhaft überraschenden Ende. Kleines Buch, grosses Thema – brillant.
— Günther Grosser, Berliner Zeitung