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Lenos Verlag
Ahmed Mourad
Diamantenstaub
Thriller aus Ägypten
Aus dem Arabischen
von Christine Battermann
Die Übersetzerin
Christine Battermann, geboren 1968 in Wuppertal, studierte Arabisch
und Türkisch in Bonn. 1996–2000 Lehrbeauftragte r Türkisch an der
Universität Bonn. Seit 1998 freie Literaturübersetzerin. Sie übertrug
u.a. Werke von Machmud Darwisch, Rosa Yassin Hassan und Alexan-
dra Chreiteh ins Deutsche und lebt in Köln.
Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde vom dKulturFonds in
Zusammenarbeit mit LITPROM – Gesellschaft zur Förderung der Lite-
ratur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. unterstützt.
Titel der arabischen Originalausgabe:
Torab Al-Mas
Copyright © 2010 by Ahmed Mourad
Copyright © 2010 by Dar El Shorouk
Erste Auflage 2014
Copyright © der deutschen Übersetzung
2014 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich, Dominic Wilhelm
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 452 9
Diamantenstaub
Dem Mann der letzten Gelegenheit,
Herrn Präsidenten Muhammad Nagîb
Die finstersten Zeiten in der Geschichte der Völker sind die, in
denen der Mensch glaubt, das Böse sei der einzige Weg zum
Guten.
Ali Adham in seinem Buch Geheimgesellschaften
über den Nihilismus
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Montag, 15. November 1954
Jüdisches Viertel, al-Churunfusch/al-Gamalîja
Auf dem buckligen englischen Pflaster am Zugang zur Sa-
lomongasse wurden die Schatten immer länger. Ein dünner
Mann mit einer Stange und einer kleinen Leiter ging auf einen
Laternenmast zu. Nachdem er die Sprossen behände erklom-
men hatte, klappte er das gläserne Türchen der Laterne auf
und steckte das brennende Ende der Stange hindurch. Nach
ein paar Sekunden lag um den Mast ein matter Lichtschein,
der den Boden vor einem kleinen Laden zitternd erhellte. »al-
Sahâr Parfums« stand mit der Hand geschrieben auf dem
Schild über der Tür. In den Regalen im Inneren drängten sich
Fläschchen mit Blütenessenzen. Sie waren mit kleinen Leder-
fetzen und dünnen Schnüren verschlossen, trotzdem duftete es
noch bis auf die Strasse hinaus.
Das Abendgebet war vorüber, und Hanafi war unterwegs
zu seinem Geschäft. Jedes Mal, wenn er die Hand hob, um die
übrigen Ladenbesitzer zu grüssen, sah man an seinen Ärmeln
noch die Spuren der Gebetswaschung. Als Farûk, sein Ältes-
ter, ihn kommen sah, warf er seine Zigarette schnell auf die
Strasse und wedelte mit den Händen, um den Tabakgeruch
zu vertreiben. Verschämt lächelte er dabei zu Halâwa hin über,
die in ihrer Milâja
*
vor ihm stand: zwei weisse Marmorsäu-
len, jede von einem goldenen Fussreif umfasst. Darüber eine
Sahneschüssel unter einer stolz vorgeschobenen Brust und
einem Gesicht mit kajalgeschwärzten Augen, r die man
hätte sterben mögen. Die Witwe des Viertels war sie, und der
Spruch »Hinter jeder grossen Frau steht ein Mann der ihr
aufs Hinterteil starrt!« schien wie r sie gemacht. Bei ihrem
* Erklärungen einiger arabischer Begriffe im Glossar auf Seite 407.
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Anblick trat Hanafi ein wohlgelliges Lächeln auf die Lippen.
Er fuhr sich mit den Fingern durch die schwarzen Locken, gab
aus einem Fläschchen ein paar Tropfen Parfum in seine Rechte
und klopfte es sich in den gepflegten Schnurrbart. Während er
auf Halâwa zuging, liess er den Blick über ihren Körper wan-
dern. Schliesslich tauchte er in ihre Aura ein.
»Halâwa, wie gehts Ihnen?«
»Guten Abend, Herr Hanafi«, flüsterte sie mit aufreizend
heiserer Stimme.
Um seine Nervosität zu überspielen, zog er einen Stuhl
her an und hiess sie sich neben die Tür setzen: »Ruhen Sie
sich fünf Minuten aus!« Dann wandte er sich an Farûk, der
ihm sehr ähnlich sah nur dass er seine Ärmel hochgekrem-
pelt trug, wie es durch den Schauspieler Schukri Sarhân im
Film Lahalîbu in Mode gekommen war. »Hat jemand was ge-
kauft?«, fragte er ihn.
»Oberstleutnant Hassan hat Nelken und Basilikum ge-
nommen und gesagt: ›Die Rechnung Ende des Monats.«
»Wenn du aus dem Hinterteil einer Ameise Fett gewinnen
willst, wirst du nie was zum Braten haben«, murmelte Hanafi
vor sich hin. »Der wird uns wieder mit dem Geld hinhalten!«
»Gehst du heute zu Chawâga Lieto?«
»Ja.« Hanafi klopfte seinem Sohn auf die Schulter. »Jetzt
aber ab mit dir, deine Mutter ist allein.«
Farûk warf Halâwa einen Blick zu und zwinkerte schick-
salsergeben. »Recht so, Abu Farûk.«
Hanafi beugte sich vor, um ein paar Flaschen einzusam-
meln, und sagte, ohne aufzusehen: »Und geh direkt nach
Hause, lauf nicht erst überall herum! Ausserdem: Pass auf,
dass du nicht so viel Teer in die Lungen kriegst. Es ist ein
ziemlicher Gestank hier im Laden.«
»In Ordnung, Papa.«
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Farûk rannte fort, und Hanafi wandte sich wieder an das
Kind des Hauses El Rashidi El Mizan
*
: »Eine schlimme Ge-
neration! Was kann ich für Sie tun, gnädige Frau?«
»Jasmin«, sagte sie langsam.
Hanafi riss seinen Blick von ihren Lippen, nahm ein Fläsch-
chen und wickelte es in ockerfarbenes Papier. »Jasmin vom
Jasminstrauch.«
»Haben Sie rotes Henna?«
Er erhaschte einen kurzen Blick auf ihre Waden. »Was wol-
len Sie mit Henna? Ihre Fersen sind doch von Natur aus so
rosig wie Gazellenblut.«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ihr Gesicht gefällt mir
nicht. Was haben Sie, Bruder?«
»Hexenwerk, Halâwa. Der böse Blick setzt mir zu.«
»Jemand muss Sie mit einem Zauber belegt haben.«
»Ich sehe die Dämonen ja vor mir herumhüpfen, Gott
gnade mir.«
»Er steh uns bei! Sie müssen bei mir vorbeikommen, dann
vertreibe ich die Geister und verbrenne ein bisschen Räucher-
werk für Sie.«
Hanafi musste lächeln. »Geht das nicht auch hier im La-
den?«
»Das monenauge
**
verbrenne Sie!«, sagte sie mit einem
wohlklingenden Lachen.
Er beugte sich zu ihr hinunter. »Sie kommen zu spät,
Halâwa. Wenn wir uns früher begegnet wären …«
Mit verträumtem Lächeln stand sie auf und raffte ihre
* Eine ägyptische Süsswarenfirma, die unter anderem Halwa (arabisch:
halâwa) herstellt. (Anm. d. Übers.)
** »monenauge« (ain al-ifrît) ist der arabische Name der Paternoster-
erbse. Die Samen der Pflanze werden zum Schutz vor Zauberei und dem
bösen Blick verbrannt, darüber hinaus wird ihnen eine aphrodisierende
Wirkung nachgesagt. (Anm. d. Übers.)
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Milâja zusammen. »Das kommt alles von dem Geist, er hat
unglaubliche Kraft! Wenn ich Ihre Frau wäre, wären Sie viel-
leicht nicht …«
Ohne nachzudenken, sagte er: »Bei meiner Gesundheit, ich
rde gar nicht mehr in den Laden kommen. Sie kennen mich
nicht, ich …«
»Schren Sie nicht, Sie Maulheld! Was bin ich Ihnen
schuldig?«
Hanafi nahm ein Tütchen Henna, drückte es ihr in die
Hand und versuchte dabei, ihre zarten Finger zu behren.
»Alles schon bezahlt, und Sie bekommen noch was wieder.«
»Wenn Sie es sich anders überlegen sollten, kommen Sie in
die Burkukîjagasse!« Halâwa raffte die Milâja um ihre bemer-
kenswerten Hüften zusammen, und nachdem sie Hanafi einen
Blick zugeworfen hatte, der seine Brust in Flammen setzte,
ging sie hinaus.
Er sah ihr nach, bis sie fort war, und summte dabei vor sich
hin: »Nie werdich den Montag vergessen, an dem wir beide
uns trafen.«
Um neun Uhr machte Hanafi die Türen seines Ladens zu
und verrammelte sie mit einem eisernen Querriegel und einem
grossen Schloss. Als er gerade im Begriff war, zu gehen, hörte
er plötzlich ein Klirren wie von zersplitterndem Glas. Er öff-
nete die Türen wieder, und im Licht der Strassenlaterne sah er
einen hölzernen Bilderrahmen zerbrochen auf dem Boden lie-
gen. Er hob ihn auf, legte ihn auf den Tisch und besah sich die
Schnur. Sie war ohne erkennbare Ursache gerissen. Dann zog er
auch das Bild aus den Glasscherben. Es war ein handkoloriertes
Foto des Präsidenten Muhammad Nagîb in Uniform. Darun-
ter stand der Wahlspruch »Einheit – Ordnung – Arbeit«.
»Es gibt keinen Gott ausser Gott«, seufzte Hanafi, als er Na-
gîbs Augen betrachtete, die unendlich traurig und sorgenvoll
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blickten. Dann rollte er das Bild zusammen und legte es in eine
Ecke. Er zog sich die Kufîja fest um den Hals, setzte sein Käpp-
chen auf und machte sich auf den Weg in die Nusairgasse, wo
sein alter Freund Lieto wohnte. Der hatte ihm einen gemütlichen
Abend mit den Liedern der Dame, Laila Murâd
*
, versprochen.
Auf dem Weg durch den stürmischen Novemberwinter,
während er sich die Hände in den Manteltaschen wärmte, ge-
riet Hanafi ins Grübeln über die stockenden Einnahmen seines
Ladens und seine Verantwortung für sieben hungrige Mäu-
ler. Und über Halâwa, die schwer zu ignorieren war, die seine
Wachträume beherrschte und vergessene Hoffnungen wieder-
aufleben liess. Bei alledem war er, ohne zu wissen, warum, selt-
sam angespannt und kaute an den Nägeln. Etwas war nicht so,
wie es sein sollte. Nur der Gesang der Dame würde diese düstere
Stimmung aufhellen nnen – und ein Stückchen Haschisch,
mit dem seine Finger bereits in der Manteltasche spielten.
Hanafi ging durch so enge Gassen, dass er die Häuser auf
beiden Seiten hätte berühren nnen, wenn er die Arme aus-
gestreckt hätte. Schrill wie das Wehgeschrei einer Witwe pff
der Wind dort hindurch, wirbelte Ablle und Papier auf und
klatschte alles gegen Fenster und Türen. Die Wäsche auf den
Dächern flatterte so, dass man meinen konnte, dort trieben die
Dschinnen ihr Wesen.
Am Zugang zur Nusairgasse durchschritt Hanafi ein Ei-
sentor, das mit einem sechszackigen Stern und einem grossen
Widderhorn bewehrt war. Er stieg in den ersten Stock hinauf,
klopfte und wartete, bis das Licht anging und die Tür geöffnet
wurde: von Tûna, einer voll erblühten Blume mit kajalumran-
deten Augen und einem Kaugummi im Mund.
* Ägyptische ngerin und Schauspielerin jüdischer Herkunft (1918
1995). Mit der Absetzung Muhammad Nagîbs durch Nasser endete
auch ihre Karriere. (Anm. d. Übers.)

Ahmed Mourad
Diamantenstaub

Thriller aus Ägypten

Aus dem Arabischen von Christine Battermann


Lenos Pocket 184
Paperback
ISBN 978-3-85787-784-1
Seiten 407
Erschienen 3. August 2016
€ 14.90 / Fr. 20.00

Taha lebt in Kairo, tagsüber arbeitet er als Pharmavertreter und nachts als Apotheker. Er kümmert er sich um seinen Vater, der im Rollstuhl sitzt und seine Tage damit verbringt, das Leben der anderen mit dem Fernglas zu beobachten.

Als Taha eines Morgens heimkommt, findet er seinen Vater leblos auf – er wurde ermordet. Die Polizei stellt ihre Ermittlungen bald ein, und so sucht Taha selbst nach dem Täter. Dabei lernt er Kairos dunkelste Seiten kennen, er begegnet Grausamkeit und Skrupellosigkeit, aber auch Menschen, die an eine Veränderung der durch Korruption und Klientelismus zerstörten Gesellschaft glauben. Taha beginnt seine Welt mit anderen Augen zu sehen.

Unverhofft fällt ihm das Tagebuch seines Vaters in die Hände, in dem dieser die Morde beschreibt, die er einst im jüdischen Viertel Kairos begangen hatte. Taha kommt hinter das Geheimnis des mysteriösen Diamantenstaubs, des »Königs der Gifte«, und macht sich dieses Wissen fortan zunutze. Doch auch die junge Journalistin Sara stellt Recherchen an ...

In seinem Thriller zeichnet Ahmed Mourad das Bild einer Gesellschaft kurz vor der Explosion, und er erzählt von einer Stadt, die längst ihre Unschuld verloren hat, nicht aber ihren typisch ägyptischen Humor.

Pressestimmen

Der Thriller um den tödlichen Diamantenstaub zeichnet über die Krimihandlung hinaus das Bild einer Gesellschaft unmittelbar vor dem moralischen, wirtschaftlichen und politischen Kollaps. Wer Ägypten verstehen will, der lese diesen Roman.
— Susanne Schanda, NZZ am Sonntag
Ahmed Mourad zeichnet ein (Un-)Sittenbild seines Landes, in dem seit Jahrzehnten Gewalt und Gier regieren.
— Dina Netz, Deutschlandradio Kultur
Ahmed Mourad entwickelt ein hochspannendes, mysteriöses Geschehen, mit tiefen Einblicken in die ägyptische Gesellschaft, ihre Kultur und Historie. Das Ganze ist schonungslos, atmosphärisch und mit bösem Humor geschrieben.
— Ostthüringer Zeitung
Ahmed Mourad nimmt den Leser mit auf eine Reise in das vielschichtige Ägypten, mit seinen Gerüchen, Gelüsten und Geheimnissen. … Mourad versteht es, zu überraschen und zu faszinieren. Die Sage um das Geheimnis des mysteriösen Diamantenstaubs, des ›Königs der Gifte‹, gibt der Geschichte einen magischen Touch. … Ahmed Mourad überzeugt als ein virtuoser, weitsichtiger und phantasievoller Krimiautor.
— Westdeutscher Rundfunk
Das sprachlich gewitzte, sehr lebendig und anschaulich geschriebene Portrait eines krisengeschüttelten Landes. Nicht nur für Krimifans ein Vergnügen.
— FAZ Literaturkalender
In seinem Thriller zeichnet Ahmed Mourad das Bild einer Gesellschaft kurz vor der Explosion, und er erzählt von einer Stadt, die längst ihre Unschuld verloren hat, nicht aber ihren ägyptischen Humor. … Neben einem packenden Plot mit einigen überraschenden Wendungen bietet Diamantenstaub eine interessante Milieustudie sowie einen Familienroman, der sich über drei Generationen erstreckt. Tiefe Einblicke in ein durch und durch korruptes Land erlauben bereits Ausblicke in das Ägypten der Gegenwart.
— Krimi-Couch.de
Ahmed Mourad erweist sich in seinem absolut fesselnden, hochspannenden und aufschlussreichen literarischen Thriller nicht nur als virtuoser, weitsichtiger und phantasievoller Krimiautor, sondern auch als überaus engagierter literarischer Chronist der sozialen und politischen Geschichte seines Landes sowie der schmerzhaften gesellschaftlichen Prozesse innerhalb der heterogenen ägyptischen Gesellschaft im Verlaufe des zwanzigsten Jahrhunderts, besonders aber auch der jüngsten Zeit.
— Psychosemitischer Buchblog